Samstag, 22. Mai 2010

der alte Mann

Ein Bild, Öl glaube ich zu erinnern, im Format von ungefähr 120 * 80 cm ist an der Türfüllung befestigt. In der Türfüllung sind auch noch andere kleine Bilder angebracht, vom eigentlichen Holz der Füllung sieht man nichts. Es gibt einen Riegel, der geöffnet werden kann. Dann lässt sich die Türfüllung ausschwenken und gibt den Blick auf eine dahinter liegende Türfüllung preis. Fast alle Türen des Kellergeschosses sind so mit zwei bis drei Türfüllungen armiert. Nicht nur die Wände, auch die Decken sind vollständig von Bildern verdeckt.
Wenn man ungefähr drei Meter vor dem Bild steht, sieht man den Kopf eines alten Mannes. Er ist alt, macht aber noch einen geistig präsenten Eindruck. Der Kopf ist von abgerundeter Würfelform, wie man sie manchmal bei Musikern findet. Es könnte ein Portrait sein, was der Mann selbst in Auftrag gegeben hat und das daher einen gefälligen Eindruck macht.
Der Kopf erscheint vor einem dunklen gemaserten Hintergrund. Tritt man näher, löst sich die Maserung allerdings in eine punktförmige Struktur auf. Kommt man noch näher, erweisen sich die Punkte als minutiös ausgeführte Totenschädel. Es müssen hunderte sein.
Der Blick des Mannes ist zwingend.
An dem Bild blieb ich lange stehen, musste mich aber dann doch weiter führen lassen. Eine Kunstführung, die von 19:00 abends bis 3_00 früh dauerte.
Der Künstler war einer aus Gugging bei Klosterneuburg. Der Ort war die ul Dabrowiecka 28. Dort befand sich ein kleines Haus, das 6000 (wie sich aus dem vorigen Eintrag ablesen lässt) Kunstwerke beherbergte.
Das war einer der Eindrücke meines Lebens, die mich nie mehr verließen.

Lenin, zur Madonna betend

Wie der erste WELT-Korrespondent in Warschau die größte Kollektion polnischer Volkskunst zusammentrug

Es gibt Irrfahrten, die währen so lange, dass niemand mehr an ein gutes Ende glaubt. Ein solcher Fall hatte sich über die letzten 22 Jahre in Warschau abgespielt; jetzt ist ein gutes Ende in Sicht. Die größte Sammlung polnischer Volkskunst, zumindest ein wertvoller Teil davon, ist vor Anker gegangen: im Hafen des Ethnografischen Museums in Warschau. Fast 1000 Stücke haben jetzt, wenn auch zunächst mit dem Rechtsstatus eines Depositums, ein Dach über dem Kopf. Eine der 50 Kisten, welche die Fracht beinhalten, wurde öffentlichkeitswirksam in Blitzlichtgewitter und vor allerhand Prominenz aufgebrochen. Als "eine Art Flaschenpost" hatte der Stifter der Sammlung, Ludwig Zimmerer, die Volkskunst begriffen, für die er sich fast drei Jahrzehnte lang begeistert hatte. In den Kunstwerken - überwiegend Holzfiguren, aber auch Gemälde und Wandteppiche - vermochte er Botschaften zu lesen, die den auf "hohe" Kunst fixierten Zeitgenossen verborgen bleiben mussten.
Warum baute ein Deutscher ausgerechnet im schwer kriegsversehrten Warschau eine Kunstsammlung auf? Der Augsburger Abiturient Ludwig Zimmerer, Jahrgang 1924, war gegen Kriegsende eingezogen worden. In Frankreich und als Kriegsgefangener hatte er erlebt, wohin nationalistischer Wahn führen kann. Nach dem Krieg war er in linkskatholischen Kreisen aktiv; die geistige Erneuerung Deutschlands und die Versöhnung von Gott und Marx hatte er sich auf die Fahne geschrieben. Der Journalist Zimmerer war jedoch bettelarm. 1956 ging er nach Polen, wo die Entstalinisierung gerade ihrem dramatischen Höhepunkt entgegentrieb. Jetzt wurde er gebraucht und entlohnt: Nachdem auch der damalige Chefredakteur der WELT, Hans Zehrer, Warschau besucht hatte, wurde Zimmerer fast über Nacht zu ihrem Polen-Korrespondenten.
Damit war er der erste bundesdeutsche, vielleicht gar der erste westliche Korrespondent im Land. Schnell hatte ihn die polnische Staatssicherheit im Visier. Sie notierte, Zimmerer vermittle "irgendwelche polnischen Schriftsteller, u.a. Mrozek", an einen deutschen Verleger. Gut gespitzelt: Zimmerer stellte nicht nur Kontakte her, er sollte auch Erzählungen und Dramen des später weltberühmten Slawomir Mrozek übersetzen. Bald fragte sich die Staatssicherheit: Will er Joanna Olczak aus Krakau heiraten?

Auch hier waren die staatlichen Schnüffler auf einer heißen Spur. Der Bayerische Linkskatholik und die angehende Schriftstellerin aus einer angesehenen polnisch-jüdischen Verlegerfamilie wurden ein Paar - auch wenn Joannas Verwandtschaft sich gegen die Eheschließung der jungen Holocaust-Überlebenden mit einem Deutschen heftig sträubte. Joanna Olczak-Ronikier hat ihren Mann in die Krakauer Künstlerkreise eingeführt, in denen damals Roman Polanski und Krzysztof Penderecki verkehrten. Vier Jahrzehnte später sollte die Autorin mit ihrer wunderbaren Familiensaga "Im Garten der Erinnerung" (deutsch bei Aufbau) einen internationalen Erfolg erzielen.

Was jedoch Zimmerer nach Polen geführt hatte und in welche Schublade er gehörte, darüber zerbrachen sich die polnischen "Organe" lange den Kopf. Ein IM der polnischen Stasi hielt fest, der Deutsche sei "Polen gegenüber wohlgesonnen, kein Kommunist, aber ein fortschrittlicher, radikalisierender Katholik; DDR-Bürger mag er nicht."

Es war klar, dass Zimmerer mit seiner Redaktion politisch überkreuz lag, zumal als Kritiker der Vertriebenenverbände. Nach dem Aufbieten aller Künste der Verwanzung, Beschattung und Überwachung des Briefverkehrs kamen die Organe in Warschau zum Schluss, der Bayer sei ein ehrlicher Mann und offenbar kein bundesdeutscher Agent. Darauf wurde eine Zeit lang erwogen, ihn für die polnischen Dienste als Agenten zu gewinnen. All das ist heute in seinem Dossier in der polnischen Stasi-Aktenbehörde IPN nachzulesen.

Doch Zimmerer, später auch NDR- und WDR-Korrespondent, war der ideale Vermittler; er kannte jeden in Warschau und in Krakau. Die ersten Texte seines Bekannten Marceli Ranicki (später Marcel Reich-Ranicki) für die WELT, noch in Polen geschrieben, gingen durch seine Hände. In sein offenes Haus mit allwöchentlichen Abendgesellschaften strömten Kontakt suchende Persönlichkeiten. (Eine bundesdeutsche Botschaft gab es noch nicht.) Deutsche Außenpolitiker sondierten in Zimmerers "Salon" zu Zeiten des Kalten Krieges das Terrain, Walter Scheel, Willy Brandt und Helmut Schmidt waren darunter. Die Gäste aus Deutschland trafen im Haus Nummer 28 in der ruhigen Dabrowiecka-Straße in ungezwungener Atmosphäre auf polnische Gesprächspartner. Natürlich lernten sie auch die Sammlerleidenschaft des Gastgebers kennen.

Diese Sucht hielt Zimmerer etwa seit 1960 im Griff. Damals hatte er eine erste Plastik eines Laienkünstlers aus der polnischen Provinz erstanden: "Letzte Umarmung zum Abschied" zeigt einen jüdischen Vater, der seine Tochter - vor der Trennung durch den Holocaust - mit schützender Geste umarmt. Die Beschäftigung mit ihren Werken jenseits von Modeströmungen und Kunstmarktwert betrachtete er als Ausgleich zum harten journalistischen Broterwerb. Und da er vor Ort nie genug Zeit habe, sei es am einfachsten, die Kunstwerke mitzunehmen, erzählte er später. Manchen Künstlern hat Zimmerer mit Rat und Tat zur Seite gestanden und konnte so über viele seiner Stücke Geschichten erzählen: Etwa über die Holzfigur "Susanna im Bade", die dem Künstler den Verdacht seiner Frau eintrug, er habe sich da ein Lustobjekt geschaffen. Woraufhin er letzte Hand anlegte und der Susanna den Unterleib absägte. Oder über die Plastik "Lenin, zur Muttergottes betend", die ein (naiver oder schlitzohriger) Bildhauer als "geeignete Würdigung" zu einem runden Lenin-Jubiläum präsentierte. Doch öfter als diese waren in seiner Sammlung die klassischen Motive religiöser Kunst zu sehen, etwa "Christus im Elend". Polen ist der Christus der Nationen.

Die Achtzigerjahre waren für Zimmerer eine Zeit schwerer Krankheit, während sich Marion Gräfin Dönhoff und weitere Persönlichkeiten für die Bewahrung der Sammlung einsetzten und Andrzej Wajda einen Dokumentarfilm über sie drehte. Als Zimmerer 1987 starb, begann ein Erbschaftsstreit. Es ist dem Einschreiten des Gerichtsvollziehers und der Denkmalpflege zu verdanken, dass die tausend Stücke jetzt ins Museum kamen, darunter Gemälde des naiven Malers Nikifor und des Surrealisten Zdzislaw Beksinski, die heute hoch gehandelt werden. Doch weitere 5000 Stücke sind immer noch im Besitz der dritten Ehefrau Zimmerers; ihre Zukunft ist ungewiss.


[Dieser Text ist aus Welt-Online zitiert bzw. kopiert. Der Artikel wurde am 6. August 2009 von Gerhard Gnauck verfasst. Es ist wahnsinnig schwer, überhaupt Referenzen zu dieser Sammlung im Internet zu sehen. Neben den rein polnischen Volkskunstwerken befanden sich in der Sammlung Werke österreichischer Künstler aus Gugging, die eine seltsame und extrem starke Ausstrahlungskraft hatten. Die dritte Frau Zimmerers, Karin, erklärte uns die Herkunft und die Hintergründe einiger Werke. Im Internet fand ich allerdings keinen Hinweis auf die unzähligen Holzschnitzarbeiten "Lenin, zur Madonna betend", die anlässlich eines polnischen Volkskunstwettbewerbes einmal eingereicht wurden.]

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